Institut für Ostasienwissenschaften

Die stärksten Triebkräfte für Menschen, sich zu organisieren, sind die Risiken, Gefahren, aber auch Chancen, die sich ihnen präsentieren. Weiß man mehr über diese Zusammenhänge und vergleicht sie mit anderen Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen, sind neue Einsichten möglich. Das Institut für Ostasienwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen behandelt solche Themen in seinem Forschungsschwerpunkt „ Risiko und Ostasien“.

Welche Risiken sind es, die Menschen dazu bringen, sich zusammenzuschließen? Drohende Naturkatastrophen sind ein offensichtliches Beispiel. Aber auch aktuelle Entwicklungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik können Auslöser hierfür sein. So unterliegen beispielsweise strategische Entscheidungen der chinesischen Führung zwischen Markt und Staat, Demokratie und autoritärer Führung einem Risikokalkül. Fragen der sozialen Sicherung in allen Ländern Ostasiens bergen Probleme. Und schließlich sind Risiken eine wichtige Komponente in den internationalen Beziehungen – sowohl innerhalb der Region (wie reagiert man etwa auf die Bedrohung durch Nordkorea oder im kürzlich wieder aufgeflammten Konflikt um die Senkoku Inseln, als ein chinesisches Fischerboot mit einem japanischen Küstenwachtboot kollidierte) als auch im Zusammenspiel zwischen Ostasien und Europa: Welche Voraussetzungen sind nötig, um gemeinsam globale Gefahren wie den Klimawandel abzuwenden? Wie bereiten sich Unternehmen auf das Risiko eines Zutritts in fremde Märkte vor? Nicht zu vergessen ist die kulturelle Dimension, denn Lebensrisiken und -chancen werden subjektiv empfunden. Macht und Interessen spielen also bei der Wahrnehmung, Verdrängung oder Behandlung von Risiken (so genanntes „Risikomanagement“) ebenfalls eine Rolle.

In einer Vielzahl von Forschungsprojekten, die im Jahresbericht des Instituts im einzelnen vorgestellt werden, analysieren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Instituts Fragestellungen wie oben skizziert. Gemeinsame theoretische Klammer der soziologischen, politik- und wirtschaftswissenschaftlichen Projekte bilden die Institutionentheorien. In den verhaltenswissenschaftlichen Projekten finden dabei zunehmend Methoden der experimentellen Ökonomie Eingang. So führen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Instituts auch eigene Experimente in Asien durch, um die Unterschiede im Verhalten der Menschen zu explorieren. Eng verzahnt mit dem Forschungsprogramm ist das Graduiertenkolleg, das im Mai 2009 von der DFG genehmigt wurde.

DFG-Graduiertenkolleg 1613

Risiko und Ostasien: Ein deutsch-englisches Forschungsprogramm

Das Graduiertenkolleg (Sprecherin: Prof. Karen A. Shire, PhD) verfolgt drei Ziele:

  1. zu sozialwissenschaftlichen und vergleichenden Theorien institutionellen Wandels beizutragen, indem es erforscht, wie sich Verantwortlichkeiten für die Regulierung von und den Schutz vor sozialen, politischen und ökonomischen Risiken von Staaten zu Märkten, von öffentlichen zu privaten Körperschaften und von Kollektiven zu Individuen wandeln,
  2. institutionellen Wandel in einer Region der Welt – Ostasien – zu erforschen, in der sich institutionelle Logiken historisch unterschiedlich ausgewirkt haben, und
  3. eine ausgeprägte Qualifizierung in den Forschungsmethoden und -theorien zusammenzuführen mit guten Sprach- und Regionalkompetenzen.

 

Das Innovative am Forschungsprogramm besteht darin, eine Risiko-Perspektive bezüglich des institutionellen Wandels einzunehmen und dabei disziplinenspezifische Forschungsfragen mit regionalwissenschaftlichen Perspektiven in einem intra- und interregionalen Forschungsdesign zu kombinieren. Die Unterthemen des Forschungsprogramms analysieren Auswirkungen von vier „großen Prozessen“ heutiger institutioneller Veränderungen auf die Verschiebung von Risiken: Marketisierung, Individualisierung, Dezentralisierung und Transnationalisierung.

Das Forschungsprogramm ist als eine internationale Zusammenarbeit mit dem UK Centre of Excellence – dem White Rose East Asia Centre der Universitäten von Leeds und Sheffield – in Kooperation mit führenden Zentren sozialwissenschaftlicher Forschung in Ostasien, der Fakultät für Soziologie und Bevölkerungsstudien an der Renmin Universität in Beijing und dem Institut für Sozialwissenschaften an der Universität von Tokyo in Japan, konzipiert. Die disziplinäre und methodologische Expertise der deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmer wird ergänzt durch das regionale Fachwissen der britischen Forscherinnen und Forscher, darauf abzielend, herausragende Leistungen in der Verbindung von methodischer und sprachlicher Ausbildung in der sozialwissenschaftlichen Regionalforschung zu erreichen.

Die Zusammenarbeit schließt gemeinsam entwickelte Qualifizierungselemente ein, die an zentralen Abschnitten in der Entwicklung und Durchführung von Promotionsprojekten innerhalb eines strukturierten dreijährigen Doktoranden- Curriculums vorgesehen sind. Eine entscheidende Innovation des Graduiertenkollegs ist die „gemeinsame Mobilität“ nach Ostasien. An der Renmin Universität in Beijing sowie der Universität von Tokyo findet ein Intensivkurs zu Forschungsmethoden und Feldforschung mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Ostasien statt, mit der die Doktorandinnen und Doktoranden auf ihre eigene Feldforschung vorbereitet werden. Diese entscheidende Neuerung ist ausgerichtet auf die Weiterentwicklung methodisch fundierter Forschung in den disziplinbasierten Regionalstudien Ostasiens sowie auf die frühzeitige Integration von Doktorandinnen und Doktoranden in die Scientific Community in Ostasien. Das letzte Jahr des Programms schließt Maßnahmen ein, die darauf abzielen, Doktorandinnen und Doktoranden auf eine produktive wissenschaftliche Laufbahn, die auch englischsprachige, von peers begutachtete Veröffentlichungen einschließt, vorzubereiten.

Das Ausmaß des großen Tohoku-Erdbebens im März 2011 in Japan, die Tsunami und die dadurch ausgelöste Kernschmelze in den Reaktoren von Fukushima I bestürzten alle beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die Relevanz und Aktualität der Forschungsfragen des Graduiertenkollegs wurden auf traurige Art und Weise durch die Dreifachkatastrophe hervorgehoben. In verschiedenen Veranstaltungen und Projekten der neuen Stipendiaten versuchen die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Auswirkungen der Katastrophe sowie ihre gesellschaftliche Bearbeitung zu analysieren. So wurden auf dem lange vor den Erdbeben geplanten internationalen Expert-Workshop „Ready or Not? Assessing Recent Changes in Japan’s International Crisis Management Capabilities“, der im Herbst 2011 in Duisburg von Dr. Kerstin Lukner und Dr. Alexandra Sakaki organisiert wurde, in einer eigenen Sektion die Krisenbewältigungsstrategien nach dem Erdbeben thematisiert. Auf dem von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung finanzierten Workshop diskutierten hochrangige Experteninnen und Experten aus Japan, den USA und Europa, wie Japan mit außenpolitischen Krisen und Risiken umgeht.

Auf einem weiteren internationalen Workshop des Kollegs, der zusammen mit dem Deutschen Institut für Japanstudien im November 2011 in Tokyo organisiert wurde, wurden neue Risiken in der Arbeitswelt diskutiert. Experten analysierten die politischen und sozialen Konsequenzen der auch in Ostasien stetig expandierenden instabilen Beschäftigungsverhältnisse.

 

Max Weber Stipendium

Der neu berufenen Juniorprofessorin Kristin Surak PhD wurde ein Max Weber Stipendium am Europäischen Universitätsinstitut in Florenz verliehen, mit dem sie sich im akademischen Jahr 2010/11 für ein Jahr voll auf ihre soziologischen Forschungen zu Migration, Ethnizität, Nationalismus und Kultur konzentrieren konnte. Seit Herbst 2011 forscht sie wieder im Rahmen des Graduiertenkollegs und treibt ein Projekt zur Arbeitsmigration in Ostasien voran.

Scientist in Residence

Die Universität Duisburg-Essen verleiht in jedem Jahr einem international ausgewiesenen Wissenschaftler oder einer Wissenschaftlerin die Position eines Scientist in Residence. Im Jahr 2011 gelang es, auf Vorschlag aus dem IN-EAST mit John Creighton Campbell, Emeritus der Universität von Michigan, einen renommierten Politikwissenschaftler zu gewinnen, der in seinen Arbeiten die politischen Implikationen des demographischen Wandels in Japan untersucht. Prof. Campbell beriet in seiner Zeit am IN-EAST die Doktoranden und Postdoktoranden des Graduiertenkollegs und half, Forschungsfragestellung und -design weiter zu entwickeln. In dem Festvortrag „Long-term Problems and Short-term Disasters: Politics and Social Policy in Post 3/11 Japan“ anlässlich der Verleihung der Gastprofessur beleuchtete er zusammen mit dem bekannten Politikwissenschaftler Gerald L. Curtis von der Columbia University, New York, die politischen und gesellschaftlichen Implikationen der Dreifachkatastrophe in Japan.