Forschung im Sonderforschungsbereich 1242 „Nichtgleichgewichtsdynamik kondensierter Materie in der Zeitdomäne“

Durch genügend kurzzeitige, externe Stimuli wie Lichtblitze, impulsive Druckänderungen, elektrische Spannungsstöße oder Partikeleinschlag lassen sich Nichtgleichgewichtszustände in kondensierter Materie präparieren, die durch eine statische Energiezufuhr nicht erreicht werden können.

Die starken Anregungen der Elektronen und Gitterschwingungen im Festkörper verändern sich dabei sehr dynamisch in Zeit und im Raum, wobei charakteristische Zeit- und Längenskalen bis in den Femtosekunden- bzw. Nanometerbereich die Mitglieder der SFB 1242 besonders interessieren. Dorthin können sie nur durch modernsten Nachweisverfahren beispielsweise im Bereich Optik, der Elektronenspektroskopie und der Elektronen- bzw. Röntgenbeugung vordringen. Diese erlauben es, Prozesse in Echtzeit, auf den mikroskopischen Zeitskalen, auf denen sich Atome und Elektronen in Materie bewegen, zu verfolgen – vergleichbar mit Filmen, die mit Hochgeschwindigkeitskameras aufgenommen werden, aber um einige Größenordnungen schneller.

Im Folgenden werden mehrere Projekte vorgestellt.

Ultrakurzzeit- und Terahertzphysik

In den Jahren 2017 bis 2018 war die Gruppe von Prof. Turchinovich an der Anzahl der Projekte beteiligt, mit den Schwerpunkten THz-Physik des Graphens und THz-Spinelektronik. Eines der wichtigsten Ergebnisse war die Demonstration einer äußerst effizienten Erzeugung von THz-Harmonischen höherer Ordnung in Graphen.

Wenn die Anregung von Elektronen im Graphen durch eine mehrzyklische, quasi monochromatische THz-Welle erfolgt, führt die resultierende Schwingung der Graphenleitfähigkeit aufgrund der Dynamik der elektronischen Aufwärmung-Abkühlung zu einem hoch nichtlinearen elektrischen Strom im Graphen, der zur elektromagnetischen Wiederabstrahlung bei höheren Harmonischen der treibenden THz-Frequenz führt. Die Mitglieder der Forschungsgruppe Turchinovich fanden heraus, dass Graphen nichtlineare optische THz-Koeffizienten besitzt, die um viele Größenordnungen über denen anderer elektronischer Materialien liegen, was Graphen möglicherweise zum nichtlinearsten Material macht, das bisher bekannt ist.

Zeitaufgelöste Elektronenmikroskopie

Im Bereich der zeitaufgelösten Elektronenmikroskopie an Elektronendichtewellen konzentrierten sich die Arbeiten der Forschungsgruppe von Prof. Horn-von Hoegen und Prof. Meyer zu Heringdorf auf Eigenschaften von Oberflächen-Plasmon-Polaritonen (SPPs), longitudinale Grenzflächenwellen, die im Elektronensystem ausgewählter Edelmetalle (z.B. Gold, Silber) propagieren können. Durch Strukturierung der Oberfläche mittels fokussierter Ionenstrahlen kann die optische Anregung von SPPS gezielter kontrolliert, und somit präziser Einfluss auf die Form der Wellenfronten der Elektronendichtewelle genommen werden. In zeitaufgelöster Photoemissionsmikroskopie können die Wellen in Super-Zeitlupe ‚gefilmt‘ werden, wie sie sich mit nahezu Vakuumlichtgeschwindigkeit über die Oberfläche bewegen.

Ein Highlight dieser Forschung stellen die Arbeiten an zweidimensionalen plasmonischen Singularitäten dar, die durch spiralfömige Anregestrukturen erzeugt werden können. Ähnlich einer Wendeltreppe, bei der im Zentrum der Treppe die Stufenhöhe unbestimmt ist (und weswegen im Zentrum von Wendeltreppen immer ein Loch oder ein Pfosten sein muss), so ist die Phasenlage der SPP-Wellenfront im Zentrum der Anregungsstruktur unbestimmt. Es kommt zur Ausbildung einer Singularität, und das Zentrum der Struktur ist von dem SPP aus topologischen Gründen zu allen Zeiten abgeschirmt.

Diese Arbeit ist in enger Kooperation mit Arbeitsgruppen aus Stuttgart, Kaiserslautern und Haifa (Israel) entstanden. Die Publikation bildet die Grundlage für weitergehende Arbeiten, die durch einen mehrmonatigen Besuch von Prof. Tim Davis von der Universität Melbourne (Australien) im Jahr 2018 weiter forciert wurden.

Nanoskalige Oxide für die Energiekonversion

Ein Forschungsschwerpunkt der Arbeitsgruppe von Prof. Rossitza Pentcheva ist die Untersuchung thermoelektrischer Materialien für die Umwandlung von Abwärme in elektrischen Strom. Neueste Untersuchungen der AG zeigen, dass sich die benötigten n-und p-Typ Systeme aus derselben Materialkombination herstellen lassen, indem lediglich die Stapelfolge der Schichten an den sog. polaren Grenzflächen gezielt variiert wird. Eine weitere Möglichkeit, die thermoelektrischen Eigenschaften zu verbessern, bieten die reduzierten Dimensionen: insbesondere zeigen Übergitter aus jeweils einer Monolage des korrelierten Metalls Lanthan-Nickelat und des Bandisolators Lanthan-Aluminat unter Zugspannung einen deutlich höheren Seebeck-Koeffizienten.

Hochaktuell und zugleich herausfordernd ist die Beschreibung der zeitlichen Evolution von laserinduzierten elektronischen Anregungen in Volumenmaterialien und an Grenzflächen, die in einem Projekt im Sonderforschungsbereich 1242 in Zusammenarbeit mit Kolleg*innen aus der Experimentalphysik durchgeführt werden.

Zweidimensionale Halbleiter

Die Entdeckung von Graphen hat viele Forscher*innen dazu angespornt, nach vergleichbaren Materialien, die nur aus wenigen Atomlagen bestehen, zu suchen. Insbesondere sollten diese zweidimensionalen Atomlagen im Gegensatz zu Graphen die elektrischen Eigenschaften eines Halbleiters haben. Chemische Verbindungen aus den Elementen Gallium oder Indium mit Schwefel oder Selen erfüllen genau diese Eigenschaften und lassen sich, ähnlich wie Graphen, durch „entblättern“ eines Schichtkristalls herstellen. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, auch künstliche Schichtstrukturen aus mehreren verschiedenen Materialien aufzubauen, die unter mechanischer Spannung stehen können. Mitglieder der Forschungsgruppe von Prof. Kratzer haben mittels Computerberechnungen den Zusammenhalt solcher Schichtstapel und die gegenüber den Einzelmaterialien veränderten elektronischen Eigenschaften untersucht. In Zukunft werden sie die Einsatzmöglichkeiten derartiger Materialien in der Photovoltaik in den Blick nehmen.

2D-Materialien

Die Forschungsgruppe von Prof. Schleberger befasst sich mit der Herstellung und Untersuchung von 2D-Materialien. Diese sind ultradünn (i.d.R. ein bis drei Atomlagen) und dennoch überraschend stabil. Diese Kombination macht sie für viele Anwendungen interessant. So können Filter, Membranen für die Sequenzierung oder auch transparente Elektroden daraus hergestellt werden. Für den SFB 1242 werden aktuell Herstellungsverfahren für spezielle, großflächige freitragende Membranen aus Kohlenstoff entwickelt. Diese Graphen-Membranen halten dem Beschuss durch Ionen stand, emittieren dabei aber Elektronen. Diese wiederum können mit einer speziellen Kamera zeitlich aufgelöst nachgewiesen werden und fungieren so als Zeitmesser für die zeitliche Länge des Ionenpulses. Dies ist ein wichtiger Baustein der Ultrakurzpuls-Ionen-Quelle, die im SFB 1242 von den AGs Wucher, Sokolowski-Tinten und Schleberger gemeinsam entwickelt wird.

Ladungen auf der Spur

Die kleinste elektrische Ladung ist die Elementarladung e0. Alle beobachtbaren Ladungen sind ganzzahlige Vielfache von e0. Beispielsweise trägt ein Elektron eine negative Elementarladung, ein Proton eine positive. Die Messung kleinster Ladungsveränderungen ist enorm wichtig u.a. zum Verständnis von Photoeffekten, chemischen Reaktionen, mechanischen Stößen auf der Nanometerskala oder zur Untersuchung von elektrostatisch geladenen Staubteilchen und Tröpfchen, wie sie in vielen technischen Prozessen auftreten. Ein aktuelles Forschungsfeld der Arbeitsgruppe von Prof. Möller und Prof. Nienhaus beschäftigt sich mit der schnellen Messung extrem kleiner Ladungsströme. Mit Hilfe eines gekühlten Sperrschicht-Feldeffekttransistors (JFET) konnten Ströme unterhalb einer Elementarladung pro Sekunde (<10–19 A) nachgewiesen werden, was jedes kommerzielle Elektrometer um Größenordnungen übertrifft. Im Labor wird die Methode derzeit für die präzise Messung von Umladungsprozessen beim Stoß geladener Kugeln auf Metallplatten eingesetzt. Fällt wie in der Abbildung eine geladene Kugel auf die Platte eines Kondensators, springt sie mehrfach, bis sie ihre kinetische Energie verloren hat. Bei jeder Berührung kann es zu einer Umladung zwischen Kugel und Platte kommen. Dieses wird sichtbar, wenn die influenzierte und übertragene Ladung mit dem JFET in der Zeit gemessen wird. Die Abbildung zeigt ein Beispiel für eine Stahlkugel mit einem Durchmesser von 1 mm, die auf eine Kupferplatte trifft. Aus den parabolischen Kurven lassen sich Details des Ladungs- und Energietransfers quantitativ studieren. Zu Beginn fällt die Kugel mit einer positiven Ladung von 47 fC (ca. 290000 e0) auf die Platte. Beim ersten und zweiten Kontakt mit der Platte kehrt sich die Polarität der Kugel um, was zu dem Umklappen der Parabel führt. Bei den weiteren Stößen verändert sich der Betrag der Ladung auf der Kugel, die Polarität aber nicht. Der Hintergrund der Messungen sind aktuelle, astrophysikalische Forschungen, die die Rolle von Stößen zwischen geladenen Staubpartikeln oder Chondren in protoplanetaren Scheiben für die Planetenentstehung klären sollen.