Interaktion unter spezifischen kulturell-geistigen Bedingungen

Grundlagenforschung an der Schnittstelle von Linguistik, Psychologie und Medizin leistet Dr. Charlotte Bellinghausen (Germanistik) mit dem Projekt „Autismus-Spektrum-Störung: Experimentelle Studien zur Wahrnehmung von Prosodie“ (mit Prof. Schröder). Mit Hilfe von Perzeptionsexperimenten wird untersucht, wie sich prosodische Indikatoren von Unsicherheit bei Antworten auf autistische Personen im Vergleich zu neurotypischen Kontrollpersonen auswirken. Für die Generierung der sprachlichen Äußerungen wird die artikulatorische Sprachsynthese Vocal Tract Lab verwendet, ein multimediales Software-Tool, das die Mechanismen der Sprachproduktion sichtbar macht (Kooperationspartner: Thomas Fangmeier, Johanna Keller, Dr. Dr. Andreas Riedel, Prof. Ludger Tebartz von Elst, Uniklinikum Freiburg; Susanne Drechsel, Universität Halle-Wittenberg; Prof. Peter Birkholz, TU Dresden. Förderung: Programm zur Förderung des exzellenten wissenschaftlichen Nachwuchses UDE).

Im Projekt „Interaktion & Raum“ (Förderung seit 2012 durch die VW-Stiftung) wird am Beispiel eines humanoiden Roboters in der Rolle eines Museumsführers das Zusammenspiel von Verbalsprache, Kopfbewegungen, Zeigegesten und Körperbewegung erforscht. Wie kann das Verhalten des Roboters modelliert werden, um den Einstieg in eine Interaktion zu gestalten oder Besucher*innen auf ein Objekt zu orientieren? Da derartige kommunikative Aufgaben kleinschrittige Koordinierung mit den Interaktionspartner*innen erfordern, untersuchen Prof. Karola Pitsch und Raphaela Gehle (Kommunikationswissenschaft), wie Besucher­- *innen auf das Verhalten des Roboters reagieren und wie situativ-dynamische Interaktionsmodelle entwickelt werden können.

Gemeinsam mit Kolleg*innen aus Informatik, Sozialpsychologie und Rechtswissenschaften erforschen Prof. Pitsch, Katharina Cyra und Christiane Opfermann im Rahmen des BMBF-Verbundprojekts KOMPASS sozial-kooperative Verhaltensweisen für einen virtuellen Agenten. Dieser soll als Assistenzsystem Senior*innen und Menschen mit kognitiven Einschränkungen bei der Gestaltung ihrer Tagesstruktur unterstützen. Zum einen werden Strategien der Verständigungssicherung sowie Rezipient*innen-Feedback untersucht. Zum anderen wird mittels ethnographischer Feldstudien, Interviews und einem Langzeittest des Systems eruiert, wie sich eine derartige neue Technologie in den Nutzer*innenalltag integrieren lässt und dabei möglicherweise die bestehende Alltagsökologie verändert wird.

Noch sind Menschen, die Hilfe brauchen, vor allem auf andere Menschen als Interaktionspartner angewiesen. Dabei ist Religiosität ein Antrieb, sich sozial zu engagieren. In einem qualitativ angelegten Forschungsprojekt untersuchte Prof. Hubertus Lutterbach (Katholische Theologie) die Religiosität heutiger Ehrenamtlicher u.a. in den Bereichen Kirchenasyl, Gefangenenbüchereiwesen, Tafel, Hospiz und Telefonseelsorge. Wie gestaltet sich die aktuelle Interaktion der Ehrenamtlichen gegenüber den Bedürftigen im Vergleich zu früheren Epochen? Vergleichskriterien waren die Bedeutung von Jenseitshoffnungen, die Anregungen der Ehrenamtlichen zur Stärkung der gesellschaftlichen Partizipation bei den Bedürftigen oder die Bedeutung von Religion als zugewandter Lebensstil. Insgesamt dominierte unter den aktuellen Interaktionsmustern die „Resonanz“ als „Beziehungsmodus der Mitmenschlichkeit“, wohingegen bis in die 1960er Jahre vor allem die jenseitige Belohnung zu den caritativen Leistungen inspirierte.

Wie professionelle Helfer*innen im Katastrophenfall kommunizieren, erforscht das Projekt „Kommunikation und professional vision in der Katastrophen-Medizin. Veränderung der Rolle des Notarztes im Krisenfall“ (Prof. Pitsch in Kooperation mit Dr. Stefanie Merse, UKE). Dabei steht die Handlungskoordinierung in Übungseinsätzen zu Großschadenslagen im Fokus. In solchen komplexen Workplace-Szenarien sind ca. 100 Teilnehmende involviert – Feuerwehr, Notärzte, Rettungsdienste etc., – deren Abstimmungsprozesse durch inter-professionelle Teams organisiert werden. Die verschiedenen Perspektiven in diesen Teams stehen im Zentrum des Erkenntnisinteresses und werden mittels Videotechnik, mobilem EyeTracking etc. aufgezeichnet (Anschubförderung: Profilschwerpunkt Wandel von Gegenwartsgesellschaften).

Auch in weniger dramatischen und komplexen Settings müssen bzw. können Menschen gleichzeitig zwei oder mehr Aktivitäten koordinieren – etwa einen Vorschlag machen und dabei einen Rucksack auspacken oder einen Tanz instruieren und ihn simultan mit einem*r Partner*in performen. In seinem Promotionsprojekt geht Maximilian Krug (Betreuung: Prof. Pitsch) dem Phänomen des Multitaskings auf den Grund: Dazu analysiert er ein Korpus von über 200 Stunden Videomaterial, das er mithilfe mehrerer Kameras und mobilen Eye-Tracking-Brillen während eines Probenprozesses an einem städtischen Theater erhoben hat.

Eine interdisziplinäre Tagung schließlich widmete sich einem zeitlosen Thema und der vielleicht schönsten, schwierigsten, und möglicherweise komplexesten Form der Interaktion zwischen zwei oder auch mehr Menschen: der Liebe. Gegenwärtig ist viel von einem grundlegenden Wandel der (Vorstellungen von der) Liebe in der westlichen Welt die Rede. Die neuen Medien haben die Anbahnung von Beziehungen grundlegend verändert, und wohl noch nie gab es so viele verschiedene, auch kulturell hybride, Formen, miteinander in Beziehung zu treten und Beziehungen zu leben wie heute: verheiratet oder nicht, mit Nachwuchs oder ohne, hetero- oder homosexuell, monogam oder polyamor uvm. Medien inszenieren permanent eine „buntere“ Welt von Liebesgeschichten, die als Leitbilder und/oder diskussionswürdige Angebote auf die Gesellschaft zurückwirken. Diesen Phänomenen widmete sich die Tagung „Liebeserfindungen, Liebesempfindungen. Semantiken der Liebe zwischen Kontinuität und Wandel – vom Barock bis zur Gegenwart“ (Prof. Frank Becker, Historisches Institut/Dr. Elke Reinhardt-Becker, Germanistik), die ein starkes Medienecho auslöste. Die Ergebnisse sollen in die DFG-Forschungsgruppe „Ambiguität und Unterscheidung: Historisch-kulturelle Dynamiken“ an der UDE einfließen, die ab 2019 von der DFG gefördert wird.