Geisteswissenschaften

Literatur – Sprache – Identität 

In den Mitgliedsstaaten der EU finden sich sehr verschiedene Sprachsituationen: Im Gegensatz zu Ländern, die eine Nationalsprache haben, wie Deutschland, und solchen, die als multilinguales Staatswesen funktionieren, wie Luxemburg, steht Belgien vor großen Problemen, die heute nicht zuletzt mit seiner sprachlichen Teilung zu tun haben. Verschiedene, zum Teil unvereinbare Konzepte von Sprache führen zu Problemen in inter- und intrakulturellen Kommunikationsprozessen, und sie werfen die grundlegende Frage nach dem Zusammenhang zwischen Sprache und der Konstruktion von Identität auf.

In den differenzierten Gesellschaften der ­Gegenwart bildet die Literatur einen „Raum“ komplexer Bedeutungen und ästhetischer Metasprachen. Zeitgenössische Texte, die Multilingualität als ästhetisches Prinzip verwenden, Texte von AutorInnen mit Migrationshintergrund oder mit interkulturellen Interessen ermöglichen tiefe Einblicke in neue Formen von Identität. Das international angelegte Projekt The Construction of Identity in Multilingual Literature: A Comparison of Belgium, Germany, Luxembourg and the Netherlands von Prof. Rolf Parr und Dr. Thomas Ernst (LuM, mit KollegInnen der Universität und dem Centre National de Littérature Mersch/Luxemburg, der Universität Leuven/Belgien und der Univer­sität Leiden/Niederlande), nimmt solche Texte in den Blick und vergleicht den literarischen Diskurs innerhalb der vier Länder, um mit Hilfe verschiedener kultur- und literaturtheoretischer Ansätze zu analysieren und zu verstehen, wie Sprache(n) soziales Leben und Identität in Europa formen.

Auch in Nordamerika prägen komplexe Wechselbeziehungen zwischen Literatur, Medien und Migration das (städtische) Selbstverständnis. Im Forschungsverbund Condensation, Inversion, Assemblage: City Scripts and North American Urbanity (Prof. Barbara Buchenau, Prof. Jens Gurr, Prof. Josef Raab, Dietmar Meinel, ­KollegInnen der Universitäten Bochum und Dortmund; Anglistik/Nordamerikastudien) geht es um eine systematische, historisch und geographisch breite Auseinandersetzung mit jenen Schreibprozessen und Lektüreverfahren, welche die widersprüchliche Geschichte der migrationsgebundenen Urbanisierung nordamerikanischer Gesellschaften seit den Anfängen europäischer Landnahme ermöglicht und kritisch hinterfragt haben. Das Projekt schließt an das im letzten Bericht vorgestellte MERCUR-Projekt Urban Transformations (2012–15) an. Ziel ist die Beantragung eines DFG-Graduiertenkollegs (Federführung Buchenau).

In Deutschland bildet die Literatur türkeistämmiger SchriftstellerInnen ein eigenes Forschungsfeld innerhalb der Literaturwissenschaft. Diese Texte im Wortsinn zu „ver-orten“, ist eines der Ziele des am Institut für Turkistik gegründeten Literaturarchiv türkeistämmiger Autorinnen und Autoren (Prof. Kader Konuk/Nesrin Tanç M. A.). Es wird Werke, Vor- und Nachlässe türkei­stämmiger Autorinnen und Autoren erschließen, sammeln, ordnen und der Öffentlichkeit in Form von Ausstellungen und Publikationen sichtbar machen. Das Archiv wird ein in Deutschland ­einzigartiges Forum bilden, das die wissenschaftliche Erforschung transnationaler Literatur ermöglicht und umsetzt. Zu den allgemeineren Aufgaben des Archivs zählt, die Geschichte der türkischen Migration und des Exils in der breiten Öffentlichkeit erkennbar zu machen und schriftstellerische Nachlässe nachhaltig zu sichern. Zu den wissenschaftlichen Aufgaben des Archivs gehört, das transnationale literarische Netzwerk der Autorinnen und Autoren und die Bedingungen der literarischen Produktion vor dem Hintergrund der Mehrsprachigkeit zu erforschen.

Man könnte annehmen, dass sich in Deutschland seit der Zuwanderung der Türken zu ­Beginn der 60er Jahre die wechselseitige Wahrnehmung durch alltägliche Kontakte norma­lisiert und zum Positiven verändert hat. Doch wie die Bilder „der Deutschen“ über „die Türken“ und die Bilder „der Türken“ über „die Deutschen“ nach 50 Jahren vielfältiger Kontakte tatsächlich sind bzw. welche Bilder voneinander bei welchen Bevölkerungsgruppen dominieren, damit wird sich das BMBF-Projekt Stereotype Deutschland-Türkei beschäftigen (Stefan ­Ossenberg, DaZ/DaF, Leitung Prof. em. Rupprecht S. Baur in Kooperation mit Prof. Haci-Halil ­Uslucan, Institut für Turkistik, ­Zusammenarbeit mit KollegInnen von der ­Marmara-Universität ­Istanbul und der Bahçeşehir-Universität Berlin, seit September 2014). Anhand einer 134 Merkmale umfassenden Liste wird ­untersucht, welche Eigenschaften die Deutschen den Türken zuschreiben und umgekehrt. Das Projekt verbindet soziolinguistische, sprachwissenschaftliche und literaturwissenschaftliche Fragestellungen und untersucht sowohl zeit­genössische (Presse und Belletristik) als auch historische literarische Texte.